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     Ansprache 8:   Kunst und Religion

In der winterlichen Taiga
Winter in der Taiga    (Foto: Simkin)

Inhalt: Das Festhalten an der Tradition ~ Entstellungen schleichen sich ein ~ Der Wert der Ikonen verliert sich ~ Der Weg der Ikonenmalerei verwucherte ~ Früher haben Ikonen Licht ausgestrahlt ~ Die bildende Kunst hat sich weiterentwickelt ~ Kunst als Hilfe bei der geistigen Entwicklung ~ Die Künste sind Äste am Baum der Religion ~ Ein Geistlicher sollte auch ein Künstler sein ~ Die Trennung von Kultur und Geistigkeit überwinden

       Das Festhalten an der Tradition

1. Die orthodoxen Kirchenväter halten eifrig an den Vorschriften über die Abbildung von Heiligen fest,

2. Und sind dabei der Meinung, dass ein Kunstmaler kein Ikonenmaler sein kann,

3. Wobei sie darunter die größte Kraft der geistigen Einwirkung auf den Betrachter durch das heilige Antlitz verstehen.

4. Da diese Ansicht einen grundlegenden Platz im Denken der Kirchenväter einnimmt, hat das dazu geführt, dass die Ikonenmaler von Jahrhundert zu Jahrhundert und auch weiterhin sich an die Abbildung ein und derselben Gesichter mit ein und denselben Techniken halten.

5. Kann einem Menschen, der von Kind an ein und dieselben Gesichter gesehen hat, an die er leidenschaftlich glaubte, irgendeine andere Gestalt erscheinen? So geschieht es auch mit dem Ikonenmaler,

6. Der, wenn er das eine oder andere Antlitz abbildet, unbewusst die im Kopf eingeprägten Gestalten wiederholt.

7. Was bedeutet, dass die Ikone, als Widerspiegelung des "wahren" Glaubens, im geistigen Leben des Menschen zur Tradition wurde.

8. Diese Äußerlichkeit verdeckt wie ein dichter Nebel den Blick der Suchenden.

9. Dieser Fehler hat zu einem großen Verlust geführt.

       Entstellungen schleichen sich ein

10. Die ersten Ikonenmaler, die leidenschaftlich gläubig waren und ständig gebetet haben, haben sich angestrengt auf die Erschaffung des heiligen Bildes vorbereitet.

11. Sie haben ihre Arbeit erst dann aufgenommen, wenn das heilige Antlitz in ihrer Vorstellung so klar erschienen war, dass sie das nachfolgende Werk schon deutlich sehen konnten.

12. Das Weitere geschah ganz natürlich.

13. Die späteren Ikonenmaler haben von diesen Abbildern gelernt, und in den Momenten ihres Schaffens hielten sie unbewusst an den bekannten Antlitzen fest.

14. Dennoch konnten die Künstler nicht vermeiden, dass die gemalten Bilder von Generation zu Generation immer mehr entstellt wurden, selbst wenn sie nicht an eine andere Darstellung des Heiligen gedacht hatten.

15. Und je mehr verschiedenartige Entstellungen es gab, desto mehr verstärkte sich diese Erscheinung.

16. Heutzutage findet man unter den bisher existierenden Abbildungen von Heiligen keine zwei gleichen mehr.

17. Und in manchen Fällen sind sie sich völlig unähnlich.

18. Das wahrhafte und wertvollste Abbild eines Heiligen wird jenes sein, bei dem die Gestalt vollständig aus der Vorstellungskraft des Künstlers entstanden ist,

19. Wo er nach ernsthafter Vorbereitung die lobgepriesene Schönheit zum Ausdruck bringt

20. Und das Werk mit seinem lebendigen Geist anfüllt.

       Der Wert der Ikonen verliert sich

21. Zur Zeit der Herstellung der ersten Ikonen konnte die Abbildung der Heiligen, wegen der ungenügenden technischen Methoden, nicht die geistige Großartigkeit übermitteln.

22. Selbst wenn der Ikonenmaler mit dem lebendigen Modell gearbeitet hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, ein wahrheitsgetreues Abbild zu übermitteln.

23. Deswegen hatte die Ikone mit der Zeit nur dank dem Heiligenbild einen Wert.

24. Dieser Wert des Abbildes, von Generation zu Generation weitergegeben, wurde zum traditionellen Kanon (Regelwerk).

25. Doch die Denkweise und die geistige Welt des Menschen bleiben untraditionell.

26. Der Wert einer Ikone als Heiligenbild verliert sich.

27. Nur bei einem Gläubigen ruft das ikonografische Abbild ein wahres Erbeben der Seele hervor.

28. Bei den anderen erinnert es nur noch an den Glauben vergangener Generationen,

29. Was im Hinblick auf die Entwicklung des Lebens normal ist.

       Der Weg der Ikonenmalerei verwucherte

30. Die ersten Ikonen enthielten in sich alle Errungenschaften des menschlichen Könnens.

31. Doch nach einer gewissen Zeit kam es zu einem Bruch zwischen der Ikonenmalerei und den bildenden Künsten, wobei jeder seiner Wege ging.

32. Doch nur die bildenden Künste haben sich auf ihrem Weg auch weiterentwickelt.

33. Der Weg der Ikonenmalerei aber verwucherte, weil er nicht benutzt wurde.

34. Die Verwucherung des Weges begann seit der Zeit, als Ikonenmaler erschienen, die nicht versucht haben, auf die Erscheinung der Heiligen vor ihrem inneren Auge zu achten,

35. Weshalb sie in den letzten Jahrhunderten ihre Werke den festgelegten standhaften Vorschriften untergeordnet haben,

36. Und sich ganz auf die bereits existierenden Abbilder verließen.

37. Beim Herstellen solcher Werke braucht man nicht unbedingt große Kenntnisse über die geistigen Tiefen des Menschen zu haben.

38. Es reicht, die Technik der Ikonenmalerei zu erlernen. Oh, welch gewaltiger Verlust!

       Früher haben Ikonen Licht ausgestrahlt

39. Aufgrund des angeborenen Strebens zur Erschaffung des Schönen, rief das heilige Abbild in der Anfangszeit der Ikonenherstellung sowohl ein Erbeben vor der Heiligkeit sowie auch Freude an dem Werk der menschlichen Hände hervor.

40. Während die ersten Ikonenmaler das Werk schufen, legten sie den ganzen Elan ihrer Seele und alle ihre Fähigkeiten in ihre Arbeit,

41. Wodurch diese Werke Licht zu den Betrachtenden ausstrahlten.

42. Doch mit der Zeit haben die Meister nur noch an den bekannten Heiligenbildern festgehalten, aus Angst, von den festgelegten Regeln abzukommen.

43. Und seitdem hat sich die Fähigkeit immer mehr verringert, in die Arbeit die Fülle der Gaben seiner Seele hineinzulegen.

44. Die Arbeit an den Abbildungen der Heiligen hat immer grauere Nuancen angenommen.

       Die bildende Kunst hat sich weiterentwickelt

45. Im Unterschied zur Ikonenmalerei hat sich die bildende Kunst ständig weiterentwickelt und ist dabei von einer Stufe zur anderen übergegangen.

46. Die innere Welt des Menschen aber bewegt sich unaufhaltsam weiter, ohne diesen Strom zu verlassen.

47. Da sich die Kinder Gottes ja in Bewegung befinden, verändern sich ihre Ansichten, was auch bedeutet, dass das Bedürfnis nach Schönheit sich immer mehr ändert.

       Kunst als Hilfe bei der geistigen Entwicklung

48. Der Mensch, der ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht hat, bedarf bestimmter Befriedigungen seiner geistigen Eigenschaften,

49. Zu deren Entwicklung einzig die Kunst verhelfen kann, die sich nicht nur gestalterisch verbessert, sondern auch in größere Tiefen der Psychologie eindringt,

50. Was man mit Hilfe entwickelter Methoden der Gestaltung erreichen kann.

51. Man darf nicht vergessen, dass echte Kunst ihrem Wesen nach darin besteht, heilend auf die Seele einzuwirken.

       Die Künste sind Äste am Baum der Religion

52. Doch die Künste sind Äste am Baum der Religion.

53. Wer stirbt, wenn man die Äste vom Baum abbricht?

54. Der Baum, seiner Äste beraubt, lässt neue wachsen.

55. Die Äste aber, des Baumes beraubt, vertrocknen.

56. Ist es also klug, die Äste vom Baum abtrennen zu wollen?

       Ein Geistlicher sollte auch ein Künstler sein

57. Es ist ein gewaltiger Fehler der Gottesdiener, dass sie die Kunst, die Schönheit zu erkennen, gering schätzen.

58. Ein Geistlicher muss ein Grundwissen in der Kunst besitzen,

59. Und noch besser ist es, wenn er irgendeine Erscheinung dieser farbenfrohen Wolke beherrscht,

60. Denn echte Kunst erlaubt es nicht nur, den Mitmenschen den Segen der Seele des Schöpfers vollständiger zu übermitteln, sondern sie hilft auch, die geistige Welt des Betrachters zu ordnen und zu bereichern.

       Die Trennung von Kultur und Geistigkeit überwinden

61. Die Kunst darf nicht in Weltliches und Geistiges aufgeteilt werden. Das ist eine gewaltige Unwissenheit,

62. Denn nur die Kunst kann, in Abhängigkeit von der geistigen Größe ihres Schöpfers, entweder Licht oder Finsternis mit sich bringen.

63. Die blinde, seit langem bestehende Einteilung in Kultur und Geistigkeit hat dazu geführt, dass die gewaltigen Fundamente einen tiefen Riss bekommen haben.

64. Und heute könnt ihr immer mehr sehen, wie die Kultur geistlos wird und die Geistigkeit - kulturlos. Oh, welch großer Verlust!

65. So erkennt denn würdig die Gaben, die euch der Große Vater gegeben hat! Seid Schöpfer!

Amen.              

 

 

 

 

 

 

 

 

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